Jeden Tag sitzt der alte Pepe auf der Veranda seines großen Hauses und lässt sich von der Sonne bescheinen. Ruhig und wohlig knarrend trägt ihn sein alter Schaukelstuhl vor und zurück. Vor und zurück.
Manchmal lächelt der alte Pepe. Einfach so, weil es schön ist auf der Veranda im Sonnenschein. Manchmal schaut er ganz ernst, wenn er nachdenkt und dabei auf einem Strohhalm herumkaut. Sein runzliges, braunes Gesicht sieht dabei aber immer noch freundlich aus.
Das ganze Dorf kennt ihn nur als den guten alten Pepe, der von morgens bis abends auf der Veranda sitzt, Strohhalme kaut und freundlich den Lauf der Sonne verfolgt. Und niemand kann sich daran erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre.
Nicht einmal die alte Mathilde. Und die ist nun doch schon fast achtzig Jahre alt.
Wie alt der alte Pepe ist, weiß niemand zu sagen. Aber sehr alt ist er, so viel steht fest. Und schon immer trägt er einen goldenen Kugelschreiber, den er aber nie benutzt, in der Brusttasche seiner abgewetzten Jacke.
Manchmal kommen die Kinder aus dem Dorf und besuchen ihn. Dann spielen sie auf der Veranda, während der alte Pepe ihnen lachend zuschaut. Ins Haus hinein jedoch dürfen die Kinder nie.
Immer wenn sie kommen, holt der alte Pepe Süßigkeiten aus den Taschen seiner Jacke und gibt sie den Kleinen, die sich dann artig mit vollem Mund bedanken. Und das, obwohl die Naschereien oft schmecken, als seien sie sehr alt. Wenn auch natürlich nicht so alt, wie der alte Pepe.
Von den Kindern bekommt der alte Pepe manchmal Spielsachen geschenkt, als Dank für die Süßigkeiten. Die bringt er dann immer, leise vor sich her summend, in sein großes Haus. In all den Jahren muss er sehr sehr viel Spielzeug angesammelt haben. Doch wie viel, das kann nur er selbst wissen. Denn niemand außer ihm ging jemals in das Haus.
Auch andere Dinge muss der alte Pepe in seinem großen Haus zuhauf haben. Denn es sind nicht nur die Kinder des Dorfes, die ihn besuchen kommen, um ihm Sachen zu schenken.
Weil der alte Pepe als sehr weise bekannt ist, bekommt er oft Besuch von Erwachsenen, die um einen klugen Ratschlag bitten, den sie dann auch bekommen.
Zum Dank lassen sie stets etwas zurück. Manchmal ist es eine gute Mahlzeit, die satt macht. Ein leckerer Brei oder ein Stück Torte – etwas, das nicht gekaut werden muss, weil der alte Pepe doch nicht mehr alle Zähne an der Tanne hat. Und manchmal sind es ganz andere Dinge: Eine selbstgemachte Tonfigur, Werkzeuge, Bücher, Kassetten, Gestricktes oder etwas völlig anderes.
Einmal hatte er von Frau Dornfelder, einer böse aussehenden Dame, die allerdings sehr nett ist, sogar ein Klavier bekommen. Kein neues zwar, doch ein sehr schönes.Das hatte sie ihm geschenkt, nachdem er ihr dazu geraten hatte, ihrer Tochter einen richtigen Flügel zu kaufen.
Die Tochter ist inzwischen zu einer waschechten Konzertpianistin herangereift, die in der ganzen Welt bekannt ist.
Und auch sonst hat er allerhand merkwürdiges Zeug in seinem Haus. So hat er zum Beispiel viele seltene Schallplatten, allerdings keinen Plattenspieler. Außerdem hat er einen Hochofen, einen sehr sehr schweren Goldbarren, ein U-Boot und sogar eine ganze Bushaltestelle, an der freilich nie ein Bus hält. All das und noch vieles mehr hat der alte Pepe in seinem Leben geschenkt bekommen.
Doch der alte Pepe hat auch ein dunkles Geheimnis, das ihn sehr traurig macht und von dem niemand etwas weiß.
Jeden Abend, wenn die gerötete Sonne hinter den fernen Bergen verschwindet, wo sie am Morgen zuvor aufgegangen ist, steht der alte Pepe von seinem knarzigen Schaukelstuhl auf, nimmt seinen knorrigen Gehstock und verschwindet durch die Doppeltür, die nie abgeschlossen ist, in seinem Haus.
Im Haus drin ist es ganz dunkel – elektrisches Licht gibt es hier nicht – und alles: Wände, Decke und Boden ist aus solidem Holz, das Pepes Schuhe über die Jahre ordentlich abgewetzt haben. Es riecht überall nach Staub und nach Erinnerunen – ganz anders, als man das sonst bei sehr alten Leuten kennt.
Dann lehnt der alte Pepe seinen Gehstock an ein kleines Tischchen mit hübsch geschwungenen Beinen und zündet die Kerze an, die darauf steht. Sie ist gelb, hoch und dünn. Neben ihr liegt ein linierter Notizblock, auf dem augenscheinlich Strichlisten geführt werden.
Der alte Pepe schlägt das oberste Blatt um und darunter kommt ein noch völlig unbeschriebenes zum Vorschein.
Mit Kerze, Notizblock und dem goldenen Stift in der Brusttasche seiner abgewetzten Jacke bewaffnet beginnt der alte Pepe dann einen Rundgang durch sein Haus. Dabei macht er für jeden Gegenstand, den er sieht, gutmütig nickend einen senkrechten Strich auf das Papier. Nur jeder fünfte Strich geht quer durch die vier vorhergehenden.
So zählt er Abend für Abend all die Dinge, die er besitzt und die er lieb hat. Dabei kommt er natürlich auch an seinem U-Boot, seiner Bushaltestelle, seinem Dauerschneemann, seiner Diamantkrone, seinem Wolpertinger, seiner Atombombe, seinem Korkenzieher und noch vielem mehr vorbei. Sogar das Horn eines Einhorns besitzt er – das Einhorn hatte es ihm einmal selbst geschenkt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und zu jedem dieser Gegenstände gehört eine schöne Geschichte, an die der alte Pepe beim Zählen zurückdenkt. Sogar die Geschichten, die zu den alltäglichen Dingen wie Hufeisen, Küchenwagen oder Zimtsternen gehören, kennt er noch alle. Er braucht nur ein Ding anzusehen und die Geschichte dazu kommt ganz von selbst.
Der alte Pepe braucht für seine Zählrunde immer sehr sehr lange, denn er hat ein sehr sehr großes Haus und sehr sehr viele Dinge. Und beim Zählen übersieht er nie auch nur das kleinste Ding.
Wenn er dann endlich mit seiner Runde fertig ist, beginnt draußen meist schon die Dämmerung. Der alte Pepe setzt sich dann an seinen guten alten Schreibtisch, zählt alle Striche zusammen, die er gemacht hat, und schreibt die Zahl unten auf das Blatt.
Seine Kerze ist dann schon so weit heruntergebrannt, dass nur noch ein flacher, verlaufender Stumpen übrig ist.
Dann vergleicht der alte Pepe die Zahl von heute mit der Zahl vom Vortag – und beginnt so bitterlich zu weinen, dass es ihn ganz durchschüttelt.
Januar 2016