I: Ankunft
An einem gleisend warmen Tage gegen Ende des Juli machte ich auf meinen Reisen Rast in einem beschaulichen Dörfchen mit geringer Bevölkerung, das auf den in Osteuropa eher ungewöhnlichen Namen Higashi hört. Meinem Reiseführer war diese Stadt gänzlich unbekannt und der asiatische Klang des Namens stieß bei mir, hier mitten in Polen, auf eine Wand aus Unverständnis. Entgegen meiner albernen Erwartungshaltung war es denn auch keine asiatische Siedlung, sondern ein in großen Teilen ganz gewöhnliches Dorf. Ganz wie jene, die ich schon hunderte Male zuvor durchwanderte.
Freundlich wurde ich, selten gesehener Wandersmann, der ich bin, von der Bevölkerung begrüßt und aufgenommen. Diverse Familien erboten ihre Heimstatt als Nachtlager und es wurde ein Festmahl veranstaltet. Letzteres ist hierzulande zwar nichts Ungewöhnliches, doch überraschte mich diese überbordende Gastfreundschaft bei einem Menschenschlag, der ansonsten eher kühl und rau, gar schroff, wirkte, jedes Mal aufs Neue. Zu essen gab es Borschtsch, Kalb und mit Preiselbeeren verfeinertes Odradek, zu trinken diverse Sorten Sliwowic und Quellwasser.
Während dieses Mahls fiel mir das erste Mal etwas außer der Norm auf. In allen Ortschaften, die meiner bisher als Gast anteilig wurden, war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass ich ausgeschmückte Abenteuer aus meinem abwechslungsreichen Leben als Wanderer zum Besten geben musste, um so die Kinder und die Kindgebliebenen zu bespaßen. Nicht so hier. Die Menschen unterhielten sich völlig selbsttätig und waren angeregt in Gespräche vertieft. Fast fühlte es sich an, als sei ich schon immer Teil der Bevölkerung, als kennte man mich schon längst und als hätte ich nicht mehr oder weniger Interessantes zu berichten, als alle anderen auch.
Da ich mit der polnischen Sprache nicht sehr vertraut war, blieb mir der Inhalt der Konversationen zu großen Teilen verschlossen, doch konnte ich nicht umhin, zu bemerken, dass wiederholt das Wort oder der Name Anulka fiel, jedes Mal begleitet von erregtem Getuschel.
Auch fiel mir eine stets identisch ablaufende Situation auf, die sich über den ganzen Abend bis spät in die Nacht hinein mit zuverlässiger Regelmäßigkeit etwa drei Mal stündlich wiederholte.
Ohne ersichtlichen Anlass fing eine zuvor nicht weiter auffällige Person ein unglaubliches, von unkontrollierten Zuckungen in Armen und Beinen begleitetes Wutgebrüll an. Wie auf ein geheimes Kommando hin eilten dann jedes Mal einige bestimmte Personen zum wutschnaubenden Störenfried, beständig beruhigende Klauseln flüsternd und murmelnd, streichelnd und auch rasselnd. Diese bestimmten Personen, das erkannte ich bald, waren immer dieselben.
Hier fiel das Wort Anulka mit außerordentlicher Häufigkeit. Der jeweilige Wüterich, durch die Anderen wieder besänftigt, griff sich nach einem derartigen Ausbruch, seine Erschöpfung ausatmend, an die schweißnasse Stirn und kam meist binnen einiger Sekunden wieder völlig zur Ruhe, so dass die Festivität sich weiter entfalten konnte, als sei nichts geschehen. Die bei einer solchen Gelegenheit zur Beruhigung herbeistürmenden Parteien allerdings waren stets bemüht, mir möglichst unauffällige Seitenblicke entgegenzuwerfen, die verstecktes Misstrauen und Sorge in zarten Blitzen kommunizierten. Scheinbar hoffte man, dass ich diese Anfälle nicht wahrnahm oder sie, falls dem doch so sein sollte, höflich ignorierte.
Mit dem Fortschreiten der Nacht schlich sich ein zunehmendes Unwohlsein in mein Bewusstsein, welches ich allerdings mit dem reichlich dargebotenen Alkohol leichterhand von mir weg schob.
Weiterhin ist in dieser Nacht nichts Seltsames mehr vorgefallen, wenn ich auch gestehen muss, dass diffuse Gedächtnislücken meine spätstündlichen Erinnerungen in nicht unbeträchtlichem Maße vernebeln.
II: Dorf
Am folgenden Tag erwachte ich mit Staubzunge und verdorrtem Gehirn zwischen einigen Halbleichen in der Festhalle. Pavel, den jungen Polen, welchen ich in der Nacht zuvor kennengelernt und während des Zechens liebgewonnen hatte, konnte ich auf den ersten Blick nicht entdecken.
Mit verquollenen Augen torkelte ich ins allzu staubgrelle Tageslicht und dann in kleinen Torkelschleifen auf den lockenden Brunnen zu, an dessen Rand ich mich niederließ, um meinen Körper von außen und innen zu wässern. Als der Nebel um meinen Geist, in unscharfen Fetzen verteilt, sich zu lichten begann, bemerkte ich, dass jener Teil der Bevölkerung, der den Wirkungen des Alkohols gegenüber resistenter ausgestattet war – oder einfach nicht derart exzessiv getrunken hatte –, geschäftig den alltäglichen Dorf- und Haushaltsangelegenheiten nachging und mich nicht zu bemerken schien, während das Kindvolk sich unter gelegentlichem freudigem Kreischen durch Gassen und Plätze spielte. Mit der Erinnerung kamen allmählich auch die Namen wieder. Da waren Magda und Lena, die sich, auf ihre Besen gestützt, verschmitzt unterhielten, die Gesichter von den Falten hohen Alters gefurcht und gebräunt.
Unwillkürlich musste ich lächeln. Da war Igor Igorowich, der eine Schubkarre voll Kohle von hier nach dort und wieder zurück transportierte. Da waren die drei jungen Sarja-Schwestern – Sarja Utrennyaya, Sarja Wetschernyaya und Sarja Polunotschnaya – welche, die Köpfe zusammengesteckt, angeregt tuschelten und gelegentlich wachsame, doch flüchtige Blicke um sich warfen.
Und da war natürlich Bjelbog, der kauzige Dorfälteste, dessen Augen – hinter einer dicken Hornbrille verschanzt – die Geschehnisse überwachten, während er sich mit leicht zitternden Händen auf seinem knorrigen Gehstock abstützte und sein weitgehend zahnloser Mund leere Kaubewegungen exerzierte. Der Bund seiner grau-braunen Kordhose saß dicht unter seinen Achselhöhlen, die lächerlich kurze Krawatte endete knapp darüber. Es war ein einmalig herrlicher Anblick, der mich für einen Moment meinen schweren Kopf vergessen ließ und mir ein Lächeln ins Gesicht zeichnete.
Als er meinen schläfrigen Blick bemerkte, entfaltete sich wiederum tief zwischen seinen Runzeln ein breites Schachbrettlächeln und er machte Anstalten, seinen rechten Arm zum Gruß zu heben, überlegte es sich jedoch aufgrund des damit einhergehenden Gleichgewichtsverlustes schnell anders. Wackelig stabilisierte er seinen Stand unter Zuhilfenahme seines Stockes und nickte mir zu.
Lächelnd winkte ich zurück und erhob mich, wobei mein Schädel mein pochendes Gehirn unangenehm einengte. Als ich in seine Richtung schwebte, drängte sich mir, ich weiß nicht woher, das Gefühl auf, diese perfekte Dorfidylle sei von einer subtilen, doch grundlegenden Disharmonie durchzogen. Ganz so, wie sich eine pittoreske Wiesenlandschaft unerwartet als garstiges Brennnessel- und Dornfeld entpuppen kann. Von außen schön anzusehen, doch schmerzhaft für jeden, der sich hineintraut. Ich schob die Empfindung auf meinen Kater und beiseite.
Bjelbog reichte mir die Hand, fast schon eine Pranke. Für sein hohes Alter hatte er einen erstaunlich kräftigen Händedruck.
In der vergangenen Nacht hatte ich erfahren, dass er in jüngeren Tagen der Schlächter des Dorfes gewesen war. Die Tiere pflegte er mit einem einzigen gezielten Schlag seines geliebten Schlachterhammers umzunieten. Martialisch, mag sein, doch auch schnell und effizient. Angeblich hat er in seinem ganzen Leben kein einziges Mal weder daneben geschlagen, noch auch nur eine Sekunde gezögert. Ein schlachtendes Naturtalent. Heute bin ich froh, dass ich ihn nie in seiner Blütezeit erleben durfte. Den Frauen im Dorf scheint er damals genau so viel Furcht eingeflößt zu haben, wie sie ihm Bewunderung entgegenbrachten, war er doch ein stattlicher Bursche.
„Ahoj“ begann ich, nachdem er meine Hand wieder losgelassen hatte. Mit fragendem Blick fuhr ich fort: „Pavel?“
Langsam schüttelte er den Kopf, mich durchgehend mit seinen durch die Brillengläser riesenhaft wirkenden Augen anblickend. „Nicht ihn gesehen, Junge.“ Sein Kopf nickte weiter von links nach rechts nach links. „Nicht ihn gesehen heute.“ Wiederholte er, die Aussprache gebrochen von einem schweren slawischen Akzent.
Er war einer der Wenigen im Dorf, die – wenn auch stark akzentuiert – einige Brocken Deutsch beherrschten. Pavel hatte mir erzählt, Bjelbog habe das im Zweiten Weltkrieg aufgeschnappt, als er ein Kriegsgefangener der Nazis gewesen war.
Auf die Frage nach seinem Alter konnte mir niemand eine Antwort geben. Es waren sich lediglich alle darin einig, dass er mit Abstand der Dorfälteste war. Damals hätte ich ihn auf Mitte Neunzig geschätzt. Heute allerdings weiß ich mehr und würde sein Alter eher im vier- bis fünfstelligen Bereich ansiedeln.
„Nicht viel Besuch hier.“ murmelt seine raue knarzige Stimme. „Zu weit weg, ne? Weit weit Weg.“
Ich wusste nicht, welche deutschen Worte er kannte, daher nickte ich zur Antwort nur, ohne etwas zu entgegnen. Außerdem war mein Denken noch immer von massiven Nebelschwaden umschwebt.
Nachdem ich meinen Blick ein weiteres Mal über den weitläufigen Platz schweifen ließ, fragte ich ihn, wo Pavel wohne.
Er sah mich an, sah weg, schnaufte kurz und sah mich wieder an. „Pavel sagen? Nicht kenne diese Pavel. Kenne nicht von wen du sprichst.“
Er blickte mich ernst und durchdringend an. Seine glänzende Unterlippe zitterte leicht.
„Aber du hast ihn doch gestern daran erinnert, dass ihr Sonnabend angeln geht! Erinnerst du dich nicht?“ hakte ich nach.
„Tut Leid“ Seine vom jahrelangen Rauchen vernarbten Stimmbänder gravierten den Schall seiner Worte in die stehende Luft. „verstehe nicht gut Sprache Deutsch, ja. Nicht viel Fragen, ja?“
Ich lachte; halb aus Mitleid mit ihm, halb aus Verständnislosigkeit. Ich sagte mir, dass man im Alter wohl gelegentlich einfach ein wenig vergesslich wurde, seufzte tief und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
„Schon okay, Bjelbog.“ Ich wandte mich zum Gehen. „Wenn du Pavel siehst, sag ihm, dass ich nach ihm gefragt habe, ja? Wenn Pavel sehen – sagen ihm – zu mir kommen – ja?“ wiederholte ich langsam. Er schien mich verstanden zu haben.
„Haha jajaja“ und wieder versuchte er, den Arm zum Gruß zu heben, doch das Gleichgewicht verlangte erneut seien Tribut und er stützte sich zittrig tatternd auf den knotigen Gehstock, der – so wie er aussah – ähnlich alt wie er selbst ein musste.
Ich sah mich kurz auf dem Platz um und machte mich entschlossen auf den Weg in die Richtung, in der die Sarja-Schwestern standen. Mit ihnen hatte Pavel letzte Nacht – wenn auch nur im Scherz – ein wenig angebandelt. Sicher wüssten sie, wo er zu finden sei. Wahrscheinlich tuschelten sie jetzt im Moment sogar über ihn. Klatschende Weiber eben.
Doch als ich mich ihnen näherte, sahen sie mich nur mit erschrocken geweiteten Augen an, rafften ihre langen schwarze-weißen Röcke und eilten geschwind in Richtung der Festhalle davon. Verwirrt und ein wenig ratlos blieb ich stehen. Hatte ich mich ihnen gegenüber letzte Nacht vielleicht rüpelhaft verhalten? War ich ihnen in meiner Trunkenheit zu Nahe getreten oder hatte sie belästigt?
Einige Teile meines Erinnerungsvermögens waren zwar ausradiert, doch konnte ich mir nicht vorstellen, mich ungebührlich verhalten zu haben. Das war nie meine Art, auch nicht, wenn ich zu tief ins Glas geschaut hatte.
Mit einem eigentümlichen Gefühl von Verlorenheit stand ich, von der gleißenden Sonne beschienen, zwischen dem plätschernden Brunnen und Bjelbog. Scheinbar sah ich recht dämlich aus, denn Magda und Lena blickten – weiterhin auf ihre Besen gestützt – kichernd wie ein wenig zu alt gewordene Schulmädchen in meine Richtung. Manche Dinge ändern sich einfach nie. Lena winkte mir, also machte ich mich mit weiterhin pulsierendem Schädel auf die kurze, doch beschwerliche Reise zu den beiden.
„Zu viel trinken er hat am Gesterntag.“ Und sofort brachen die beiden wieder in albernem Gekicher aus. Die Augen verschossen freundlichen Spott. In diesem Augenblick fiel mir auf, dass alte Frauen in Polen und in Schwaben, wo ich auch fiel herumgereist bin, sich viel ähnlicher sind, als sonst irgendwo. „Schon gut schon gut Junge. Gehst zu Wladek Laden. Gibt dich Zaubertrank ja? Hehehe?“ Der slawische Akzent dominierte in derartigem Ausmaß, dass es mir schwer fiel, zu verstehen, was sie mir sagen wollte.
Beide lächelten mir freundlich zu. Es war vermutlich nicht das erste Mal, dass sich Reisende während des Willkommensfestes übernommen hatten. Lächelnd nickend überlegte ich, wo Wladeks Laden noch gleich war. Ich war mir sicher, ihn am Vortag passiert zu haben. Ich sollte weniger trinken.
„Wo ist der Laden noch gleich? Wladeks Laden?“
Wieder albernes Altweiberschulmädchengekicher. Beide zeigten gleichzeitig nach links in die Hauptstraße und verschwammen vor meinem Blick zu einer jugendlichen, hübschen Frau mit heller Haut und einem rotweißen Kopftuch. „Straße lang dann biegen rechts dann da.“ sagte sie mit kokettem Lächeln und glänzenden Augen. Ich kniff die meinigen zusammen und schüttelte ungläubig den den Kopf, um das Trugbild zu verscheuchen. Zu. Viel. Alkohol.
Artig bedankte ich mich bei den beiden und lief in Richtung der bezeichneten Gasse, drehte mich jedoch nochmals um und fragte „Habt ihr Pavel irgendwo gesehen?“
Sofort machen sie große Augen, steckten sie verschwörerisch die Köpfe zusammen und drehten mir die buckligen Rücken zu. Wild gestikulierten sie miteinander und tuschelten und tuschelten. Scheinbar hatten sie irgendein Thema wieder aufgegriffen, das wichtiger war als dieser zerlumpte Durchreisende, der ich eben war. Seltsam kam es mir trotzdem vor. Hatte Pavel es gestern möglicherweise etwas übertrieben?
Ich machte mich durch die Hauptstraße – dass sie so hieß, war eigentlich ein Witz, weil es nur eine schmale Gasse war – auf den Weg zu Wladeks Laden.
Als ich nur noch wenige hundert Meter von besagtem Laden entfernt war, wurde ich heftig von der Seite angerempelt.
„Hey!“ wandte ich mich empört ausrufend dem Störenfried zu. In einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen erkannte ich: „Pavel!“
III: Pavel
Er sah übel zugerichtet aus und bedeutete mir zischend und mit weit aufgerissenen Augen, bloß ruhig zu sein. An meinem Kragen zerrte er mich in eine schmalfinstere gepflasterte Seitengasse, die sich rasch verjüngte, um schließlich als staubige Ecke zu verenden. Wir mussten eng aneinander gepresst stehen, den Atem des jeweils anderen unangenehm in Gesicht und Nacken.
Bei genauerem Besehen machte Pavel einen noch fürchterlicheren Eindruck, als ich auf den ersten Blick dachte. Seine bleiche Haut ähnelte eher altem, ausgedorrtem Papier, wären da nicht die tiefen Schnitte und Kratzer, die sich kreuzend und querend über Gesicht und Hals verteilten. Seine verquollenen, geröteten Augen krönten eine ausgebeulte Nase, die offenbar gebrochen war und zu deren Füßen sich vor Trockenheit gesprungene Lippen, die in mir Gedanken an abgestreifte Schlangenhäute wach riefen, rasch öffneten und schlossen, während der Atem sie umstrich.
Seine hellbraune Kleidung war zerschlissen und von getrockneten roten Flecken übersät. Ganz eindeutig Blut, höchstwahrscheinlich sein eigenes. Zu dem lebhaften, ausgelassenen Jüngling von vergangener Nacht war überhaupt kein Vergleich zu ziehen.
Ich setzte zu einer Frage an, doch wurde sofort von stummenden Zischlauten psht pssshhhht abgewürgt.
„Hör zu Compadre“, seine Stimme war leise, gepresstknurrend und rau, doch deutlich. „Du musst von hier verschwinden, und zwar rasch. Sie werden wollen, dass du bleibst. Wenn du morgen noch hier bist, gehst du nie wieder weg. Verstehst du? Ich habe keine Zeit, dir alles zu erklären. Du musst mir glauben. Bitte. Trink nichts, was man dir gibt. Gestern konnte ich es nicht verhindern. Trink nichts! Am besten verlässt du sofort das Dorf. Bitte!“ Während er derart wild auf mich einquasselte, bemerkte ich zu meinem erschrecken, dass sich seine Haare rasant von braun über grau zu weiß verfärbten. „Du bist nicht in Polen, du bist nicht mal auf der Erde. Ich weiß, es klingt verrückt, ich kann’s dir jetzt nicht erklären, keine Zeit. Und ich weiß nicht alles. Anulka weiß alles. Such sie bloß nicht! Sie haben sie gut versteckt. Ihr Wesen ist..“ plötzlich wurde er, erschrocken aufschreiend, von mir weggerissen.
Aus der Seitengasse stolpernd sah ich, wie er – wild um sich tretend und abzappelnd – von dem bulligen Metzgermeister Duma und seinem schmächtigen Gehilfen Shleet an den Armen weggeschleift wurde.
„Nein! Ihr kriegt mich nicht bitte!“ schrie er mit angst- und wutverzerrtem Gesicht. Und dann, die zuckend rollenden Augen auf mich fokussierend „Flieh du Narr! Es kommt aus dem Brunnen! Es kommt nachts aus dem Brunnen!“
Das sich überschlagende Kreischen wurde von einem trockenen Knacken terminiert, als Dumas massige Faust auf Pavels Schädel niederfuhr und ihn ausknockte. Bewusstlos wurde Pavel weiter über den Boden geschleift, während sich ein blutiges Rinnsal fließenderweise aus seinem rechten Ohr wand. Ich stand nur wie gelähmt da und konnte nicht wirklich fassen, welches Theater ich da gerade mit angesehen hatte. Was. Zur. Hölle war da los?
Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter und ich zuckte erschrocken aus sprachloser Apathie in die Realität zurück. Es war Wladek, zu dessen Laden ich ja eigentlich wollte. Verkniffen lächelte er mich an, die Sonne schien ihn zu blenden.
„Pavel Pavel.. Immer verrückt Sonne.. Immer trinken zu viel und dann Sonne machen plemmplemm.“ schüttelte er sachte den Kopf. „Kommen mit.“
IV: Wladeks Laden
Er schlurfte, mich mit eisernem Griff im Schlepptau, seinem Laden entgegen. Darin war es kühl – ein angenehmer Kontrast zur mittäglichen Hitze. In der plötzlichen Dunkelheit konnte ich das Inventar nur schemenhaft erkennen.
Wladek bot mir – osteuropäische Höflichkeit – mit zähen Gestikulationen einen alten Schemel an, auf welchen ich mich dankbar niederließ. Er werkelte derweil an etwas herum, das ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte. Ich meinte, Flüssigkeiten, Porzellan und Glas zu hören. Etwas zischte. Meine Augen passten sich nur langsam den düsteren Lichtverhältnissen an.
„Bjelbog kommt, ja? Er dir reden will.“
Ich nickte nur gedankenverloren. Derartige Erlebnisse sind nicht gerade das, was man sich nach einer durchzechten Nacht wünscht. In diesem Moment wünschte ich mir, einen Bogen um das Dorf gemacht zu haben und alleine und frei draußen auf den Wiesen geschlafen zu haben.
Mit fliegenden Händen hantierte Wladek auf einem Wandtisch herum und murmelte dabei leise vor sich hin. Die lose in den Angeln hängende schmale Türe, von stellenweise abgeplatztem weißem Lack ummantelt, öffnete sich und eine auf einen knorrigen Stock gestützte Gestalt wackelte bedächtig herein; von hinten beschienen wirkte sie wie ein Schattenriss mit Heiligenschein und -korona. Mir fiel ein, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, im Dorf eine Kirche gesehen zu haben.
Bjelbog war scheinbar noch recht flott unterwegs. Ich hätte ihm nicht zugetraut, dass er es so schnell vom Brunnenplatz zu Wladeks Laden schafft. Vielleicht hatte die Episode mit Pavel eben aber auch einfach länger gedauert, als mir bewusst war.
Als Bjelbog sich mir gegenüber mit knackenden Gelenken an den blassblauen Klapptisch setzte und schwer ächzend vor sich hin kaute, drehte Wladek sich um.
„Oj Bjelbog!“
„Oj Oj Wladek! Hehe.“
Wladek trug drei Tassen mit zwei Armen und einem konzentrierten Gesichtsausdruck. Ein wenig Flüssigkeit ging verloren, als er die Tassen mit bemüht ruhiger, dennoch zitternder Hand auf dem Klapptisch absetzte.
„Trink! Hilft Kater.“ sagte er und vertilgte den Inhalt seiner Tasse in einem einzigen langen Zug, ganz so, wie er gestern nur Sliwowic gekippt hatte. Kurz lachte er auf und zog dann eine schwere Holztruhe an den Tisch heran, um es sich darauf bequem zu machen.
„Weißt du, Pavel ist schon lange Plage in unser Dorf, ne?“ hob Bjelbog an.
Wladek hatte den Kopf träge in eine Hand gestützt und nickte bestätigend, während seine andere Hand mit der leeren Tasse spielte.
„Hat schlimme Geistkrankheit seit Unfall damals in sein Kopf. Sein Seele. Schlimm. Nicht im glauben. Schlimm, ja? Ist den Brunnen gefallen wenn kleines Junge ist gewesen. Nicht mehr ging hoch weil schlechte Gewissen wiegt schwer. Ist wahr. War ich alt damals, aber bin ich gerannt wie Teufel zum retten den Knaben. Wie Teufel gerannt!“ Ich musste mich konzentrieren, um zu verstehen, was er mir sagen wollte. Wladek nickte dann und wann zustimmend, obwohl er vermutlich kaum ein Wort verstand, das aus Bjelbogs Mund kam. Bjelbog nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse und verschüttete dabei ein wenig von dem Getränk auf seiner winzigen Krawatte. Ich ließ meine Tasse vorerst unangetastet.
„Hab ihn gezogen aus Wasser. Klatschenass er gewesen und nicht sich bewegt. Ich belebt mit Atem und Brustschlagen und Doktor geruft. Aber nicht wacht Pavel auf! Habe nicht geschafft zu wecken..“ Leicht schüttelte er den Kopf und seufzte bedauernd auf.
Nachdem er mich mit ein paar lockeren Gesten zum Trinken ermunterte, sprach er weiter. Er erzählte, wie Pavel nach diesem Unfall einige Wochen bewusstlos gewesen war. Während er am Tage stark geschwitzt habe und heftigen Zuckungen unterworfen gewesen sei, habe er des Nachts hingegen regungslos in seinem Bett gelegen. Als er aus seinem komatösen Zustand erwacht war, sei er ein von Grund auf veränderter Mensch gewesen. Während er nachts der allseits beliebte, ruhige und besonnene Pavel war, versetze ihn der Anblick der nackten Sonne seit diesem Vorfall in blanke Raserei. Dann, so Bjelbog, irre er im Dorf umher und warne jeden, doch bloß nichts zu trinken, dies und das nicht zu berühren, nicht auf die Verschwörungen hereinzufallen, niemandem zu glauben und bloß die Wahrheit im Brunnen nicht zu suchen.
„Niemand sich konnt erklären das. Schrecklich schlimm. Armer Bursche.“
Also sei man dazu übergegangen, ihn während der Sonnenstunden in einen einfachen Holzverschlag zu sperren und dort anzuketten. Zum Schutze der Bevölkerung und seiner eigenen Gesundheit.
„Seit damals es gibt kein Pavel mehr für uns an Tag. Sprechen nicht ihm am Tage. Hört alles. Macht ihm Wut. Macht ihn rasend sprechen über ihm.“
Ich nippte ein wenig an meiner Tasse. Das Getränk war warm und trotz seines eigentümlich scharfen Geruchs angenehm mild. Ich fragte Wladek, was das sei.
An seiner statt antwortete Bjelbog. „Oh, ist Spezialmischung. Wladek hält geheim wie geizigen Jude. Ist Wundermittel für alles. Aber besonders hehe für Kater an Morgen!“
Ich nahm einen weiteren Schluck zu mir.
„Wir es nennen Luoshreta.“ Wladek nickte sich reichlich Zustimmung aus Hals und Nacken. Seine Augen glänzten freudig.
„Luoshreta..“, murmelte ich. „Noch nie gehört.“
Doch an irgendetwas erinnerte mich dieses Wort. Ich kam nicht darauf. Im Rückblick hätte es eigentlich nicht offensichtlicher sein können. Aber so etwas im Nachhinein festzustellen ist immer leicht. DaVinci-Effekt.
Ich erkundigte mich nach den mannigfaltigen Verletzungen Pavels. Sein zerschundenes Bild hatte sich in meinen Verstand eingepbrannt. Es war schrecklich anzusehen gewesen.
Bjelbog erzählte, das sei gar nicht ungewöhnlich. Pavel versuche öfter, sich aus seinem Verschlag zu kämpfen. Dabei reiße er sich oft an Nägeln und scharfen Kanten die Haut wund und auf.
„Er dir das gesagt gestern. Du offenbar trinken zu viel gestern.“
Mich überkam fast schon ein schlechtes Gewissen, weil ich dem Alkohol gestern so gut zugesprochen hatte. Andererseits hatte man mich schon fast dazu gedrängt, mich bessinungslos zu betrinken. Um meine Verwunderung über Pavels Zustand herunterzuschlucken, trank ich noch einige Schlucke Luoshreta.
Hatte er mir das tatsächlich gesagt? Mein Kopf erdrückte mich in seiner eigentümlichen Leere. Eine gewisse Zeit hing ich diesem Kreis eingebildeter Erinnerungen nach.
Als ich mich aus meiner Apathie löste, um noch einen Schluck zu trinken, fragte ich, wer Anulka sei. Bjelbog verschluckte sich an seinem Getränk. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die beiden einen raschen Blick austauschten und mich dann anstarrten. Wladek schüttelte – einen ratlosen Gesichtsausdruck zur Schau tragend – den Kopf. Bjelbog meinte, er habe nie von einem oder einer Anulka gehört. Der Name selbst sei ihm gänzlich ungeläufig.
Ich war sicher, dass sie beide logen, hatte ich sie doch vergangene Nacht unter den Leuten gesehen, die stets beruhigend herbeieilten und dabei ständig eben diesen Namen murmelten.
Sie hatten versucht, mich mit ihrer Geschichte einzuwickeln. Wahrscheinlich war die am Ende auch erlogen. Menschen, die gut lügen, üben gerne. Ich hätte nichts trinken sollen.
Ich fragte mich, wie ich einen solchen Schwachsinn über den guten Pavel – und sei es auch nur für einen Moment gewesen – einfach habe widerspruchslos glauben können.
Schwindel erfasste mich. Was genau hatte ich da noch gleich getrunken? Luoshreta?
„Muss wohl eine Freundin von Pavel gewesen sein oder so. Vielleicht aus einem anderen Dorf.“ murmelte ich, ohne eine Miene zu verziehen.
Inzwischen reifte in mir tatsächlich der Plan, dieses seltsame Dorf so bald, so unauffällig wie möglich zu verlassen. Am besten im Schutz der Dunkelheit.
Doch ging mir Pavel nicht aus dem Kopf. Ich war inzwischen überzeugt von dem Gedanken, dass er alles andere als ein Verrückter war und dass man ihn festhielt, warum auch immer. Kein Mensch brachte sich derartige Verletzungen selbst bei. Nicht in derartigem Ausmaß. Am Tage verrückt, in der Nacht normal? Hanebüchener Unsinn!
Ich war mir sicher, dass er hier gegen seinen Willen festgehalten wurde undd ich hatte vor, ihn zu befreien. Wenn ich nur wüsste, wie.
Nur nicht die Nerven verlieren.
Mit der Ausrede, ich brauche ein wenig frische Luft, entschuldigte ich mich bei den beiden.
„Oj, frische Luft gut. Kommst bald wieder, ja?“
Ich verließ Wladeks Laden und musste im strahlenden Sonnenlicht einige Male blinzeln, bevor ich wieder mehr oder weniger klar sehen konnte. Meine Augen hatten sich zu sehr an gewisse Dunkelheiten gewöhnt.
Auf dem Weg zur Festhalle fiel mir die Spur aus Bluttropfen auf, die sich – von Pavel hinterlassen – die gepflasterte Straße entlangzog. Gedankenlos folgte ich den Tropfen. So konnte ich ermitteln, wohin er geschleift wurde und wo also der Verschlag sein musste, in dem man in gefangen hielt.
Die Blutspur führte zum Brunnenplatz und von dort in eine weiter Straße, der ich folgte. Es hätte mich wohl nicht überraschen sollen, dass die Spur vor der Tür des Metzgermeisters endete. Dennoch blieb von dieser Entdeckung der Abdruck eines unguten Gefühls zurück. Ich sah mich in der Straße um, doch niemand war zu sehen. Vermutlich hielt die Majorität der Bewohner Siesta oder vertilgte ein reiches Mittagsmal. Zwar regte sich auch in mir Hunger, doch wollte ich.. doch hatte sich jeglicher Appetit in mir längst verabschiedet.
Rasch hastete ich zum Brunnenplatz zurück, klaubte meinen Rucksack vom Boden der Festhalle auf und rastete gemütlich auf dem Brunnenrand, um ein wenig zu kontemplieren. Nahrungsvorräte hatte ich für die nächsten Tage – wenn auch nur trocken Brot, trocken Käse, trocken Räucherwurst – genug. Darum also galt es sich nicht zu sorgen.
Zwischen den Nahrungsmitteln erblickte ich Kerouacs On the road. Bis zur Dämmerung las ich in dem Buch, nahm dabei aber nicht viel auf. So hatte ich mir meine blinde Reise in Anfangszeiten vorgestellt. Eine naive Wunschvorstellung. So naiv. Doch ließ es in mir den Geist der Reise wieder wachsen und aufleben.
Als es seicht zu dunkeln begann, suchte ich Igor Igorowich auf. Seine Behausung lag einige hundert Meter außerhalb des Dorfes und schien mir als Ausgangspunkt für ein unauffälliges nächtliches Verschwinden am geeignetsten.
Als ich, den Rucksack in einer Hand hochhaltend, mit fragendem Blick auf seine Scheune zeigte, nickte er freudig und entblößte damit einen Mund, der dem Bjelbogs an Lückenhaftigkeit in nichts nachstand. Über seinen kahlen, unförmigen Schädel ragte ein mächtiger Buckel, über den sich der schwarze Stoff eines Jacketts Mitleid heischend bis fast zum Zerreißen spannte. Trotz seiner grobschlächtigen und klobigen Erscheinung schien er ein im Grunde guter Kerl zu sein.
In der Scheune wartete ich, im Stroh liegend und auf der Räucherwurst umhernagend, den endgültigen Einbruch der Nacht ab. Dabei rollte ich mir eine Kippe nach der anderen auf Vorrat und zündete mir alle Vierteltstunde eine an. Sonst verabscheue ich exzessives Rauchen zutiefst, doch ich war nervös.
V: Nacht
Als es hinreichend dunkel war, hüllte ich mich in meinen gesteppten Schwarzfilzmantel und trat den Weg in Richtung Metzgerei an, um Pavel aus dem Verschlag zu befreien. Ich hoffte inständig, dass er nicht längst seinen schweren Verletzungen erlegen war.
Doch noch bevor ich auch nur in die Nähe der Metzgerei kam, hörte ich laute und ausgelassene Stimmen, die vom Brunnenplatz ausgingen. War schon wieder ein neuer Wandersmann eingetroffen, anlässlich dessen Ankunft man ein Festessen abhielt?
Die Neugier trieb mich. So lief ich geradewegs an den durchgehend unbeleuchteten Schaufenstern und Wohnhäusern vorbei und ging dabei in großem Bogen um den Brunnenplatz herum. Ich wollte das Ganze gerne aus sanfter Distanz betrachten.
Also kletterte ich an der Rückseite der Festhalle empor, auf deren Dach, um mir einen guten Blick über den Brunnenplatz zu sichern.
Die Kletterei gestaltete sich als schwieriger als erwartet. Zwar war eine Leiter vorhanden, doch war diese so altersschwach, dass die einst so eisernen Streben in flockendem Rost unter meinen Stiefeln zerstoben und gen Erdboden schneiten. Blutschnee. So hangelte ich mich also den größten Teil der Fassade an Fenstergesimsen, Erkern und Mauervorsprüngen nach oben. Klettern fiel mir zwar schon als Kind immer sehr leicht, doch war ich inzwischen sehr aus der Übung gekommen.
Oben angekommen, lief ich auf dem Dach in Richtung Brunnenplatz. Sobald dieser in Sichtweite kam, bewegte ich mich nur noch auf Händen und Knien vorwärts. Ich wollte natürlich nicht dabei gesehen werden, wie ich bespitzelte, was auf dem Dorfplatz vor sich ging.
Vom Mond beschienen robbte ich mich bis zum Rand des Daches vor und ließ meinen Blick über ein Bild schweifen, das jede finstere Vorahnung, die ich gehabt haben könnte, überstieg.
VI: Anulka
Es war unfassbar. Die ganze Dorfbevölkerung hatte sich auf dem Platz versammelt, angeordnet in konzentrischen Kreisen um den Brunnen. Den innersten Kreis bildeten offenbar die jüngeren Kinder zusammen mit dem kleinwüchsigen Pjotr. Nach außen hin wurden die Menschen stückweise größer. Im äußersten Kreis konnte ich Igor Igorowich und den Metzgermeister ausmachen. Einen Ring weiter innen stand Wladek. Im Mittelfeld entdeckte ich zu meiner Überraschung Pavel, der völlig unversehrt in ein angeregtes Gespräch mit Bjelbog, der eine Reihe vor ihm stand, vertieft war.
Überhaupt schienen alle Anwesenden tief in Gespräche mit den sie Umstehenden verstrickt zu sein. Alle bis auf die drei Sarja-Schwestern.
Diese standen direkt am Brunnenrand und bildeten so innerhalb des innersten Kreises ein gleichseitiges Dreieck. Sie wirkten irgendwie transparent, so als verschmölzen sie mit dem sie umgebenden Pflaster, daher hatte ich sie zuerst gar nicht bemerkt. Sie standen völlig still, die geschlossenen Augen auf die Mitte des Brunnens ausgerichtet.
Die Gesprächsthemen konnte ich von meinem Standpunkt aus nur erahnen, doch meinte ich, immer wieder Anulka zu hören. Alle Versammelten blickten hin und wieder in Richtung des Brunnens und der Sarja-Schwestern, als warteten sie ungeduldig auf etwas. So entschloss ich mich, eben auch zu abzuwarten.
Der volle Mond, im Zenit stehend, bewarf die Szenerie mit dem ihm eigenen unwirklichen Silberlicht. Kurz dachte ich an alte Geschichten über Werwolfdörfer, tat diese jedoch als hanebüchenen Aberglauben ab. Trotzdem war mir unheimlich zumute. Auch wenn Werwölfe nicht existierten – die Bevölkerung eines Dorfes konnte durchaus an so etwas glauben. Ich rechnete mit einem albernen Ritual.
Und ein Ritual sollte ich auch bekommen.
Ich verhielt mich ruhig und beobachtete das Geschehen weiter, doch tat sich vorerst nicht viel. Nur schleichend und unmerklich wurden die Gespräche leiser und verstummten nach und nach gänzlich, ähnlich einer einmal angestoßenen Schaukel, die nur in unendlicher Annäherung ganz zur Ruhe zu kommen scheint. Doch plötzlich steht sie doch still. Absolut still.
Der Erdtrabant thronte im Zenit über den drei Schwestern und sie öffneten ihre Augen. Und dann? Dann sangen sie, die Augen auf den bleich schimmernden Mond gerichtet. In meinem ganzen Leben habe ich nichts Vergleichbares gehört; nicht davor, nicht danach.
Die Stimmen flossen wie Honig, sanft und golden, doch klebten sie nicht; sie schimmernden klar wie Silber in der Leere. Weich und warm wie das sanfte Wegdämmern an einem goldbeschienenen Nachmittag im durchlaubten Frühherbst, doch gleichsam rein und silbern.
Die gesungenen Silben – leer und voll waren sie – kannte ich nicht. Sie schienen einer Sprache entlehnt, die nie ein Mensch gesprochen hatte. Lang gezogen und schwimmend stiegen sie, die Nachtluft durchwebend, dem Mond entgegen.
Im Angesicht dieser Klänge wirkte die ganze Welt richtig. Ich fühlte mich richtig. Die Tränen unter meinen Augen und auch die Tränen aller anderen waren richtig. Alles war echt. Der Kosmos war ein tränenglänzendes, verzücktes Lächeln überwältigter Vollkommenheit. Erfüllung in stillgestandener Zeit.
Dass der Mond sich verformte, war richtig; dass er zerfloss und dabei schwere Tropfen bildete, dass die Tropfen in den Brunnen glitten, ohne Wellen zu schlagen, war richtig. Es war so wunderbar richtig, dass der Mond vom Himmel tropfte.
Als der Brunnen schließlich der Mond geworden war, erwuchs aus ihm eine hochgeschossene Gestalt.
Lange weiße Haare fielen glatt über weiße Schultern und weiter über ein weißes, bodenlanges Kleid. Die Augen in dem ebenmäßigen Gesicht waren von weißen Lidern bekleidet.
Sie war Stille. Sie war Harmonie. Sie war Anulka. Wie selbstverständlich stand sie da, in absoluter Perfektion, von einem weichweißen Schein umgeben.
Sie öffnete die Augen in dem Moment, in dem die Stimmen der Sarja-Schwestern verstummten. Die Augen waren nicht weiß. Tatsächlich waren sie das einzige nicht weiße an ihr.
Sie waren farblos. Gänzlich farblos. Sie waren nicht durchsichtig, nein. Sie waren ganz deutlich sichtbar. Und auch wieder nicht. Sie waren unendlich real. Und sie verdammten jede Farbe.
Die konzentrischen Kreise aus Menschen starrten sie mit leeren Gesichtern, leeren Mündern und gierigen Augen an. Auch Pavel. Auch die Kinder. Auch die Tiere, die mir zuvor gar nicht aufgefallen waren. Sie bildeten einen eigenen Kreis zu Füßen des Kinderkreises.
Der Anblick war mir hochgradig widerlich. Mich zerwalkte eine Übelkeit, die allerdings sofort wieder verflog, als ich meine Augen auf Anulka richtete.
Durch ihren Körper lief ein fliegendes Zittern. Sie lächelte und setzte einen nackten Fuß vor den anderen, lief auf dem Mondwasser. Eine milchige Träne glitt an ihrer lächelnden Wange herab und ließ sich lautlos in den Brunnen fallen.
Anulka stieg über den Rand, kniete sich auf den Boden und blickte sich um. Nach links. Nach rechts. Und wieder nach links. Wie um sich zu vergewissern, dass alle Blicke auf ihr und sonst nichts ruhten. Dann bog sie sich langsam und grazil zurück, um ihren Schädel anschließend mit der ganzen Kraft ihres Körpers in unglaublicher Geschwindigkeit auf das Kopfsteinpflaster zu schmettern.
In der unnatürlichen Stille hörte man den Aufprall, hörte man das trockene Knacken des Schädelknochens, hörte man den Regen der Blutspritzer- und tropfen, die auf die Steinen rießelten, und schließlich hörte man das sich manisch überschlagende Lachen Anulkas in einer widerlich Klarheit.
Anmutig erhob sie sich, weiterhin Blut verteilend und lauthals lachend. Mit langen Schritten umrundete sie den Brunnen und blickte in die gebannten Gesichter der Dorfbewohner. Ich wünschte mir, sie möge sie doch alle vernichten. Diese starrenden, ekelhaften Gestalten.
Anulka spie, noch immer lachend, dem vor ihr stehenden Kind quer über das leere Gesicht. Der milchweiße Speichel troff von Augenbrauen, Nase und Kinn. Anulka trat dem Kind in die anschließenderweise blutgezierte Visage.
Unkontrolliert wankte sie zurück, packte ihr Kleid knapp oberhalb der Brüste und riss und zerrte daran. Sie vergrub ihre schlanken Hände in den Brüsten und grub und grub sie tiefer darin ein, bis dünne Rinnsale aus Blut ihre Haut bemalten, während sie immer schwerer atmete. Speichel lief ihr Kinn hinab, die Haare waren weißrot blutverklebt, die Stirn seltsam eingedellt.
Die Hände von ihren Brüsten lösend, ergriff sie in fließender Bewegung einen kleinen blauroten Vogel, der zu ihren Füßen saß. Das Vögelchen löste sich nur langsam aus der kollektiven apathischen Starre und zirpte verwirrt vor sich hin. Anulka drückte zu. Das Zirpen und Zappeln nahm schnell zu, kippte für einige Sekunden ins Panische über und verstummte dann für immer.
Anulka lächelte. Anulka drückte stärker zu. Das bewusstlose Vögelchen blähte sich von Brust bis Kopf zusehends auf, bis es schmatzend zerplatzte, um Blut, Gehirn, Knochen und Federn auf Anulka und die sie Umstehenden zu verteilen.
Ein wirres Grinsen verzerrte ihr sonst so ebenmäßiges, hübsches Gesicht. Sie verrieb den Rumpf des Vogels und das, was vom Kopf übrig war, auf ihren bloßen Brüsten und stöhnte dabei immer wieder leise auf.
Der Anblick war so verstörend wie hypnotisch. Ihm wohnte eine pervertierte Poesie inne.
Sie warf den Vogelkadaver mit einer beiläufigen Bewegung von sich weg, entledigte sich ihres blutverschmierten Kleides und ging masturbierend auf die Knie. Ich schloss die Augen, doch konnte ich weiter hören, was geschah. Ich wünschte, ich hätte meine Ohren schließen können. Ich wollte wegrennen, doch konnte ich mich nicht bewegen.
Was sich abspielte, bevor ich mich dazu druchrang, meine Augen wieder zu öffnen, bildet einen chaotisch zuckenden Wust in meinem Gedächtnis.
Das trockene Knacken eines überstrapazierten Oberschenkelknochens. Das sandige Geräusch von Haut, die gewaltvoll von den eigenen Händen abgezogen wird. Das fast lautlose Plop eines platzenden Auges. Ich hörte alles derart eindringlich und klar, dass es sich vor meinem inneren Auge wie ein Film abspielte und wiederholte und wieder wiederholte; in allzu deutlichem Grauen, in allzu deutlicher Zerstörung. Das Schmieren von Exkrementen, die in eine offene Wunde gerieben werden. Das staubige Schmatzen von Fingernägel, die aus ihrem Bett gerissen werden, die von einem deformierten Kiefer halbherzig gekaut und dann geschluckt werden. Das Saugen einer Kniescheibe, die ihrem Gelenk mitsamt Gewebe gewaltsam entrissen wird. Ein Arm, der bis zum weichen Brechen des Ellenbogens nach hinten durchgebogen wird.
Das alles war unterlegt von lustvollem Stöhnen und zitternden Seufzern, die sich immer wieder steigerten und nach oben schraubten, immer lauter und lauter wurden, um letztlich in einen erlösenden, orgasmischen Schrei zu münden.
Nach einer kurzen Zeit der Stille öffnete ich meine Augen wieder und sah Anulka, wie sie verstümmelt und geschunden in der Mitte des Mondwassers kniete und mit farblosen Augen aus einem verzückten Gesicht in den Himmel blickte, einen Arm in einem unwirklichen Winkel abgeknickt, die Hand des anderen Armes zwischen einem glatten und einem gebrochenen Schenkel ruhend. Ihre ganze Gestalt war starr und ruhig, rot und weiß.
Aus der schweigenden Menge löste sich ein Schemen, um sich zuerst langsam, jedoch rasch schneller werdend in Anulkas Richtung zu bewegen, welche langsam ihren Blick senkte.
Es war Bjelbog – der alte, langsame und latent senile Bjelbog, der jetzt mit klarem Blick und der Behändigkeit eines jungen Athleten auf Anulka zurannte. In seiner Hand hielt er keinen knorrigen Gehstock, sondern einen langen Hammer, dessen gewaltiger Kopf sicher einen Zentner wiegen mochte.
Auf halber Strecke begann er, auszuholen. In einer geschwungenen Bahn setzten die alten Arme das schwere Werkzeug, den gut gepflegten Schlachterhammer, in Bewegung, ohne dabei auch nur ein bisschen zu zittern. Sie glichen in ihrer Beständigkeit den Drahtseilen einer Hängebrücke.
Am Rand des Brunnens katapultierte Bjelbog sich in die Luft. Im Zenit seiner Flugbahn hatte auch der Hammer seinen Wendepunkt erreicht und so ließ er ihn mit einer Wucht, die einen mittleren Baum entwurzelt hätte, in Anulkas Gesicht fahren, die dem glatten Metall mit dem Lächeln eines kleinen Mädchens, das zu Weihnachten ein Einhorn bekommen hatte, entgegensah. Ihr Schädel bot der brachialen Kraft keinerlei Widerstand.
Sie war tot. Das Einhorn war tot.
Bjelbog landete sicheren Schrittes auf der anderen Seite des Brunnens, während Anulkas Blut, Knochen, Hautfetzen und Gehirn noch durch die Luft über ihn weg spritzte. Der Kopf des Hammers setzte schwer auf dem Pflaster auf. Bjelbog stützte sich schwer atmend auf dem Stiel ab und drehte sich zu Anulka – oder dem, was von ihr übrig war – um. Sie kippte zur Seite.
Die milchige Oberfläche des Mondwassers begann sich – am Rand beginnend – vom darunter liegenden klaren Brunnenwasser zu lösen. Fest zusammenhängend begann es, eine Art Blase zu bilden, die Anulkas toten Leib ganz einschloss. Als sie sich oben geschlossen hatte, begann sie langsam aufzusteigen und dabei immer kleiner zu werden. Sie wurde so klein, dass sie am Ende aussah, wie ein Mond, über den jemand rote Farbe verspritzt hatte.
Der Mond. Rot und weiß, wie er da oben im Zenit prangte und sich unendlich langsam am Himmel entlangzog.
Um den Brunnen herum standen noch immer die drei Sarja-Schwestern. Sie waren durchsichtig; auf eine kaum wahrnehmbare Weise neblig transparent, als wären sie nur noch zu einem Teil in dieser, zum anderen Teil in einer weit entfernten, fremden Welt.
Vollkommene Stille zog Kreise um den Platz.
Am Boden des Mondes sammelte sich die rote Farbe, sammelte sich Anulkas Blut, von schwarzen Schlieren durchzogen. Immer mehr und mehr schwarze Punkte sprossen in der roten Fläche, dehnten und drehten sich zu kleinen Flecken und wuchsen sich dann zu langgestreckten Bändern und Fäden aus. Sie kämpften das Rot schnell und gnadenlos nieder, bis sie die komplette Unterseite des Mondes bedeckten.
So träge wie warmes Wachs löste sich das Schwarz langsam von der Reinheit des Mondes, formte einen alles Licht absorbierenden Tropfen, der als kaum sichtbarer Klumpen herunterfiel und sich dabei zunehmend beschleunigte.
Stumm verfolgten die fernen Blicke der Versammlung den Fall der Kugel durch die Leere, die Ruhe vor dem Sturm.
Mit unglaublicher Wucht und ohrenzerberstendem Lärm krachte der schwarze Klumpen in den Brunnen und explodierte in weißem, alles zerreißendem Licht. Die Druckwelle riss mich in die Luft und trug mich über die halbe Länge des Daches. Bei der Landung überschlug ich mich mehrfach, bevor ich endlich auf dem Rücken zum Liegen kam.
Mit leerem Kopf und klingenden Ohren betrachtete ich den Mond über mir, ich weiß nicht wie lange.
Mag sein, ich hätte in dem Moment über das nachdenken sollen, was ich eben mit angesehen hatte. Ihm einen Sinn oder zumindest den Anschein von Sinnigkeit geben.
Ich tat es nicht. Ich dachte gar nichts. In meinem Kopf herrschte vollkommene Leere. Mit kaum blinzelnden Augen verfolgte ich die Bahn, die der Mond seelenruhig in den Sternenhimmel ritzte.
Wenn man ihn ganz genau betrachtet, kann man erkennen, dass der Mond einen unsichtbaren Schweif hinter sich her zieht.
Als es bereits zu dämmern begann, wurde ich mir selbst endlich wieder bewusst. Der Mond war nicht mehr zu sehen. Meine Kleidung war feucht vom Morgentau und mich fröstelte. Meine Glieder fühlten sich sperrig und verkantet an, als ich versuchte, aufzustehen. Nur unter großer Anstrengung gelang es mir, mich auf die Füße zu kämpfen.
Mit hölzernen Schritten bewegte ich mich auf den Rand des Daches zu und sah auf den Brunnenplatz herunter. Es war keine Spur von dem zu sehen, was letzte Nacht hier geschehen war. Keine Blutspuren, keine Tierkadaver, kein schwarzer Klumpen. Das Wasser plätscherte friedlich und ungerührt vor sich hin.
Ich wusste nicht, ob ich meinen Augen trauen sollte, oder meiner Erinnerung. Oder keinem von beidem. Ich entschied mich für meine Erinnerung.
Es war einer dieser Momente, in denen man ein Gefühl dafür hat, was richtig und was falsch ist. Man ist in einem solchen Augenblick so sehr überzeugt von der Richtigkeit dieses Gefühls, dass man es über alles stellen würde, und wenn man dafür die Realität selbst revidieren müsste.
Als ich mich für meine Erinnerung entschied, war mir augenblicklich klar, was ich zu tun hatte. Ich hatte dem Ganzen auf den Grund zu gehen – im wahrsten Sinne des Wortes.
VII: Ertrinken
Ich war mir sicher, dass die schwarze Kugel, deren Explosion mir beinahe Trommelfelle und Geist zerrissen hätte, nichts anderes als die Überreste Anulkas waren, die vom Himmel gestürzt waren. Und ich war mir sicher, dass diese Überreste sich, wenn nicht in der Hölle, so doch im Brunnen befinden mussten. Und ich war mir sicher – ohne zu wissen, warum überhaupt –, dass mir einiges klar werden würde, sollte ich ihre Überreste dort unten finden.
Ich musste in den Brunnen.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wie tief der Brunnen war. Doch das war mir gleich.
Entschlossen, die frühe Stunde zu nutzen, bevor das Dorf erwachte und dessen Bewohner mir in die Quere kommen konnten, kletterte ich etwas unbeholfen und schwerfällig an der Rückseite der Festhalle herab und umging sie.
Um mich blickend näherte ich mich dem Brunnen. Weit und breit war niemand zu sehen. Am Rand des Brunnens angekommen, versuchte ich, seinen Grund auszumachen.
Doch ich sah nur tiefe, nasse Schwärze.
Ich stellte meine ausgetretenen Stiefel am Brunnenrand ab und entledigte mich meiner noch immer feuchten Kleidung, die ich säuberlich gefaltet daneben ablegte. Ich hoffte, dass nicht plötzlich jemand den Platz betrat. Und ich hatte Glück.
Prüfend tauchte ich einen Fuß in das Wasser. Es war eisig.
Alles oder nichts, dachte ich mir.
Ich nahm einige Schritte Abstand vom Brunnen und hyperventilierte, um meine Blutgefäße mit Sauerstoff anzureichern. Mit Anlauf hechtete ich in die frostige Umarmung, die sofort durch die Haut in mich eindrang. Einen Moment war ich wie erstarrt, dann begann ich, mit großen Zügen nach unten zu tauchen und dabei die Kälte zu ignorieren, so gut es mir gelang.
Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das Wasser nach unten hin langsam wärmer wurde. Doch langsam ging mir die Luft aus.
Ich konnte nicht mehr und musste auftauchen, ohne etwas gefunden zu haben. Schwer atmend schoss ich aus dem Wasser und blickte mich um. Es war noch immer niemand zu sehen.
Nach einigen Minuten der Ruhe wollte ich einen zweiten Versuch wagen. Wieder nahm ich Anlauf und tauchte in das kalte Nass ein. Wieder wurde es mit zunehmender Tiefe wärmer. Wieder wurde die Luft knapp. Doch ich hatte das Gefühl, schon bedeutend tiefer als bei meinem ersten Versuch gekommen zu sein. Das schmerzhafte ziehen in meiner Brust ignorierend tauchte ich tiefer.
Und da sah ich, in einiger Entfernung vor mir, einen schwachen, grün-weißen Lichtschimmer. Davon angetrieben, holte ich weiter aus, doch nach zwei großen Zügen half alles nichts. Ich konnte nicht mehr und musste auftauchen.
Kurz bevor ich die Oberfläche erreichte, konnte ich den Atemimpuls nicht mehr unterdrücken und sog dabei ein wenig Wasser in meine Atemwege. Schwer hustend tauchte ich auf und musste beinahe erbrechen, auch wenn dabei kaum etwas herausgekommen wäre.
An ein Aufgeben allerdings war jetzt nicht mehr zu denken, denn ich hatte Blut geleckt. Ich würde es nochmal versuchen. Und wenn ich dann nicht zum Licht käme, würde ich es eben wieder versuchen. Und wieder. Ich war mir sicher, dass ich es schaffen konnte.
Als sich meine Lunge wieder einigermaßen beruhigt hatte, hielt ich mehrmals hintereinander die Luft an, solange ich konnte. Mag sein, dass ich es mir nur einredete, doch hatte ich das Gefühl, dass die Intervalle immer länger wurden.
Ich fühlte mich ausreichend ausgeruht und war bereit, es ein drittes Mal zu versuchen. Wieder nahm ich Anlauf – noch schneller als zuvor – und glitt in die Tiefe.
Als ich das Licht wieder erblickte, hatte ich das Gefühl, es noch ein gutes Stück weit durchhalten zu können. Doch kam ich nur quälend langsam voran. So sehr meine Lungen sich, nach Sauerstoff lechzend, verkrampften, ich dachte nicht an ein Aufgeben.
Bald wurde mir mit Erschrecken klar, dass mir nicht mehr genug Luft zum Auftauchen bliebe. Es galt: Jetzt oder nie. Ich musste weiter, auf Leben und Tod – Alles oder nichts.
Doch Arme und Beine bewegten sich infolge der Erschöpfung langsamer und langsamer, die Lunge brannte wie alle Höllen gleichzeitig und das Herz betrommelte hilfeschreiend meine Rippen.
Ich konnte nicht mehr. Nur noch träge durch die weiche Umarmung gleitend, atmete ich langsam aus. Die Blasen stiegen kitzelnd um meinen Körper herum nach oben.
Und dann atmete ich wieder ein.
Es war ein Gefühl, als würde mir in jede Alveole ein winziger Speer gebohrt. Unvorstellbar, dieser Schmerz. Unvorstellbar. Jeder, der in seinem Leben schon mal einen auch nur kleinen Anteil Wasser eingeatmet hat, versteht mich zumindest ansatzweise. Ich war wie gelähmt, dachte nur noch Scheiße, das war’s und das Licht verschwand sardonisch lächelnd am Ende eines Tunnels.
Schwärze ist nicht der rechte Begriff dafür. Schwärze bezieht sich lediglich auf die optische Sensation. Die Schwärze, die über mich kam, war eine Konjunktion aus dem, was man sieht, wenn man nichts sieht, aus dem, was man riecht, wenn man nichts riecht, aus dem, was man spürt,.. und so weiter. Und vorallem, was man denkt, wenn man nicht denkt. Kannst du dir das vorstellen? Nichts zu denken? Ich rede nicht von Meditation, schon gar nicht von Verdrängung. Das ist – laxe Ironie – nichts dagegen.
Nichts zu denken ist genau das, was du dir nicht vorstellen kannst. Versuche es. Es ist definiert darüber, dass du es dir nicht vorstellen kannst.
Doch meine Augen öffneten sich wieder. Ich war – endlich – auf der andern Seite.
Jemand hatte mir gerade mit beiden Fäusten auf die Brust gehämmert. Ich erbrach einen Schwall Wasser. Und dann noch einen. Dann atmete ich schwer. Und dann noch einen Schwall Wasser nach oben würgen.
Atmete. Schwer.
Ich ließ mich aus der Krümmung rau stöhnend auf den Rücken fallen.
Ich hörte leise Atemzüge neben mir. Über mir. Wie die sanften Bewegungen wogenden Wassers.
Ich wartete, versuchte meinen Atem wieder zu finden.
Dann öffnete ich die Augen.
VIII: Unter dem Brunnen
Über mir kräuselte sich schwebend das Brunnenwasser, ohne auf mich niederzuprasseln. Meine Lunge schmerzte, mein Magen schmerzte und ich fühlte mich unglaublich elend. Vorsichtig, hustend und den Würgereiz unterdrückend, richtete ich meinen Oberkörper auf und blickte mich um.
In der schlanken Frauengestalt, die neben mir kniete, erkannte ich sofort Anulka, auch wenn sie sehr anders aussah, als vorige Nacht. Ihr Körper war von einem edlen Kleid eingehüllt, vielleicht ein Hochzeitskleid, das wohl einmal vor etlichen Jahren weiß gewesen sein mochte. Ihre braunen Haare verdeckten die ebenmäßigen Gesichtszüge zur Hälfte. Ihre Haut war bleich, hatte jedoch nichts von dem unwirklichen, göttlich-weißen Schimmer der letzten Nacht. Echt und menschlich kniete sie neben mir auf dem staubigen Boden.
Aus braunen Rehaugen blickte sie mich neugierig an. Ihre blassroten Lippen bewegten sich nicht. Sie schien gelassen darauf zu warten, dass ich etwas sagte, doch ich war viel zu sprachlos. Tausend Fragen lagen mir auf der Zunge und verkeilten sich in meinem Mund.
Ein gütiges Lächeln wuchs auf ihrem Gesicht und sie blinzelte voller Verständnis.
„Wo..“, ich musste husten und spie etwas Wasser aus. Nach ausgiebigem Räuspern versuchte ich es noch einmal. „Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“ Das Sprechen bereitete mir Schmerzen und meine Stimme hatte einen rauen und weit entfernten Klang.
Es überraschte mich, dass sie plötzlich vergnügt auflachte. „Na wo sind wir wohl? Unter dem Brunnen, du Verrückter.“ Ihre Stimme war wohlklingend und voller Leben.
So schnell wie es gekommen war, verschwand das Lachen allerdings wieder. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn hob sie ihren Blick und betrachtete das über uns schwebende Brunnenwasser. Etwas bedächtiger fuhr sie fort. „Vielleicht bist du hier nicht der einzige Verrückte.“
Ihre Augen richteten sich wieder auf mich. Sie wirkte auf einmal sehr ernst und irgendwie melancholisch. So sah sie mich eine Weile an und ich hielt es für besser, vorerst zu schweigen.
„Du bist seit Jahren der erste Mensch, den ich gesehen habe.“ Das Leben war jetzt ganz aus ihrer Stimme gewichen. Irgendwie klang das, was sie sagte.. leer. „Letzte Nacht, da sah ich dich auf dem Dach und hoffte, du würdest mich finden. Zugegeben, ich habe ein wenig nachgeholfen. Deine Zielsetzung ein wenig zurechtgebogen, sozusagen.“ Sie blickte zu Boden, als täte es ihr Leid, und die Haare fielen ihr vollends ins Gesicht.
Nach dem, was ich letzte Nacht gesehen hatte, dachte ich natürlich überhaupt nicht daran, zu bezweifeln, dass sie wohl die ein oder andere Fähigkeit besaß, die das klassische Verständnis übersteigt. Vielleicht war sie nicht einmal menschlich?
Wahrscheinlich hätte ich ihr böse sein sollen, weil sie in meine Gedanken eingegriffen hatte. Ich war es nicht. Ich war viel zu neugierig, endlich zu erfahren, was hier überhaupt vor sich ging. Hier unter dem Brunnen und hier im Dorf.
„Aber die ganzen anderen Leute letzte Nacht..“, ich wurde von einem neuerlichen Hustenkrampf unterbrochen, aber Anulka hatte mich schon verstanden. Sachte schüttelte sie ihren Kopf und sah mich aus der Tiefe ihrer braunen Augen an.
„Keine Menschen.“, sagte sie knapp. „Das waren alles keine Menschen.“ Sie sah weg und seufzte schwer. Fast wie tanzend schwangen ihre Haare durch die Luft, während sie abwesend den Kopf schüttelte. Ihnen entstieg ein Duft, süß und gleichzeitig würzig. Er war bernsteinfarben.
„Du weißt so wenig. Wie soll ich dir das erklären? Endlos bin ich das alles schon in meinem Kopf durchgegangen, aber gerade jetzt fehlen mir die richtigen Worte, es ist zum verrückt werden!“
„Wie wäre es mit dir?“
„Was?“
„Wie wäre es, wenn du bei dir anfängst?“ Als sie mich weiter glubschäugig anstarrte, setzte ich hinzu „Wer du bist, woher du kommst.. du weißt schon.“
Plötzlich brach sie wieder in das heitere Lachen aus, wobei sie eine Hand vor den Mund legte und sich winzige Fältchen um ihre Augen schmiegten. Sie sah süß aus, ein bisschen wie ein kleines Mädchen. Ganz unbefangen, ganz anders als noch vor wenigen Stunden, als es Nacht war. Wunderschön.
Als sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, bat sie mich um Entschuldigung. „Ich habe in der ganzen Zeit hier unten total meine Manieren vergessen, oder?“
Mit unterdrücktem Gekicher streckte sie mir ihre Hand entgegen. „Guten Tag werter Herr, mein Name ist Anulka.“
Auf das Spiel eingehend entgegnete ich mit gedehnter Stimme „Freut mich sehr, Ihro Hochwürden Bekanntschaft zu machen.“ und drückte wie ein Kavalier aus dem Bilderbuch einen Kuss auf ihre dargereichte Hand. Es war nicht sonderlich lustig; trotzdem entrang sich ihrem Mund ein Kichern und ich hatte den Eindruck, sie sei etwas rot geworden.
Als würde uns beiden plötzlich klar, wie seltsam die ganze Situation war, brachen wir gleichzeitig in Gelächter aus und hatten schwere Mühe, wieder einigermaßen zur Ruhe zu kommen. Es war alles so zauberhaft.
Nur langsam verebbte das Lachen. Und dann erzählte sie.
„Natürlich hieß ich nicht immer Anulka. Das ist doch kein echter Name, oder? Als ich noch ein Mensch war, hieß ich Tatjana, oder kurz Jana. Tatjana gefällt mir allerdings besser. Das ist eine Ewigkeit her. Bevor ich eingefangen wurde.“ Wehmut und Bitterkeit tropften aus ihrer Stimme. „Aber das ist eine lange und alte Geschichte, die ich jetzt eigentlich nicht erzählen möchte. Außerdem willst du sicher wissen, wer ich jetzt bin und was hier los ist.“
Ich sah sie nur stumm an und wartete. Ich schloss die Augen und wollte nur noch zuhören.
„Um es kurz zu machen: Ich bin das einzige hier, das einmal menschlich gewesen ist. Das Dorf..“
„Higashi?“
„Wenn es für dich so heißt, dann Higashi. Eigentlich hat es gar keinen Namen. Es heißt für jeden Menschen anders. Komisch, oder? Jedem Ort gibt man einen Namen, oder? Nun ja. Diesem hier nicht. Dieser Ort hat keinen Namen. Und das macht ihn auch ein Stück weit aus. Niemand würde je danach suchen, niemand, der je entkommen ist, würde je wieder zurückkehren wollen.
Für dich heißt er alleine so, weil der Name dich angezogen, dich neugierig gemacht und zur Rast eingeladen hat. Habe ich recht?“ Sie hatte recht. „Sie wissen eben, wie sie einen ködern können.
Bei mir war das damals nicht anders. Doch das ist wieder eine eigene Geschichte.“ Ihre Blicke deuteten auf einen Stoß vergilbter Blätter die unter einer schmuddeligen Strohmatratze hervorlugen. „Ich habe alles aufgeschrieben. Du kannst es lesen. Wenn du möchtest.“
Ich wollte es gerne lesen, doch zuerst sollte sie mir vom Jetzt und Hier erzählen. Ich wollte wissen, wer mir da warum gegenübersaß.
„Was du letzte Nacht hast mit ansehen dürfen, ist das, was heute noch von mir übrig ist. Meine Bestimmung. Mein Zweck. Mein Existenzrecht, sozusagen. Ich diene dem Allgemeinwohl, indem ich mich jeden Vollmond in aller Perversion zur Schau stelle. Ich spiele den Sündenbock. Ich bin das Problem, das alle anderen sich selbst vergessen lässt und über das man nach Belieben tratschen und lästern kann. Ich bin das Feindbild.
Ohne mich wären sie gezwungen, sich mit sich selbst, mit ihrer Existenz auseinanderzusetzen. Ich lasse all das zusammenschrumpfen, als Teufel, der ihnen durch die Hintertüre Trost spendet.“
„Aber warum..?“
„Sie würden mich sonst töten.“ schneidet sie meine Frage ab. „Sie würden mich töten, ersetzen und vergessen..
Es war nicht immer so schlimm, wie es inzwischen geworden ist. Nicht so extrem. Es gab Zeiten, in denen haben einfachere Darbietungen vollauf genügt. Dass mal eine Brust zu sehen war oder jemand verletzt wurde, war eine seltene Delikatesse. Stottern und blöde Dinge sagen hat vollauf genügt.
Doch mit der Zeit wurden sie immer hungriger. Das Vollmondspektakel musste immer abgedrehter, immer skandalöser sein, bis sie damit anfingen, mich am Ende jeder Séance zu töten. Inzwischen ist das ein fester Bestandteil des Rituals. Bjelbog und sein Hammer. Seit er nicht mehr als Schlachter arbeitet, hat er ja sonst keinen Spaß mehr im Leben.
Kannst du dir vorstellen, wie es sich beim ersten Mal angefühlt hat? Die in die Länge gezogenen Sekunden, bevor mir der Hammer in den Schädel gefahren ist? Damals wusste ich ja nicht, dass ich nicht wirklich sterben würde. In diesen Sekunden schoss mir durch den Kopf, dass ich nun wohl durch ein neues Opferlamm ersetzt würde.
Aber vielleicht wird es wirklich Zeit für eine neue Anulka. Trotzdem, ich will nicht sterben. Und ich will nicht, dass jemand an meine Stelle treten und das gleiche durchleben muss, Mond für Mond.
Ich habe oft darüber nachgedacht, mich selbst umzubringen. Das würden sie natürlich niemals zulassen. Wenn ich sterbe, dann nur durch Bjelbog. Er vermisst das Töten wirklich sehr, seit er kein Schlachter mehr ist und schwärmt ständig von der Macht, die man dabei empfindet. Götter werden eben auch nicht jünger.. auch nicht an einem Ort wie diesem.“
„Götter? Was meinst du damit?“
„Mann, sei doch nicht blind. Natürlich Götter. Oder denkst du wirklich, dass Menschen so etwas zuwege bringen?
Menschen gibt es hier keine. Nur ab und an verliert der eine oder andere den Weg aus dem Blick und landet dann hier, um zu sterben oder zu dienen.
Du hättest auf Pavels Rat hören und verschwinden sollen, solange du noch konntest. Jetzt ist es zu spät. Und sobald sie herausgefunden haben, dass du den Weg zu mir gefunden hast, werden sie dich essen.“
Mir wurde übel. Ich schluckte. Meine Hände wurden feucht und zitterten. Anulka strich mir beruhigend über den Arm.
„Tatjana, wie kannst du überhaupt so leben, hier in diesem Loch, und dir jeden Vollmond fachmännisch den Schädel zertrümmern lassen?“ Meine Stimme vibrierte und wurde lauter, während ich sprach. „Was soll das? Was ist das alles hier, verdammt!?“
Sie zog ihre Hand zurück und sprach mit leiser Stimme. „Eins nach dem anderen. Beruhige dich. Bitte.“
Ich sah ihr in die Augen. Und ich beruhigte mich.
„Was sie von mir töten, bin ja nicht ich selbst. Es ist nur ein Abdruck in der Realität, der aussieht wie ich. In Wahrheit töten sie nur sich selbst, immer und immer wieder, wenn man es genau nimmt.
Trotzdem sind es jedes Mal unsägliche Schmerzen, weil es eben doch auch ich bin, die jedes Mal verreckt. Ich spüre alles und bin bis zum letzten Tropfen Leid mit klarem Verstand da. Die körperlichen Schmerzen sind nichts gegen diese ekelhafte Seelenprostitution.“
Sie sah weg, um ihre Tränen zu verstecken. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Denkst du, mir ist nie der Gedanke an Flucht gekommen? Es geht nicht. Ich bin schon lange kein Mensch mehr.
Hast du eine Vorstellung davon, was ich außerhalb dieses Ortes wäre? Das selbe wie alle anderen. Ein Ding ohne Form, ohne Substanz. Nur ein flüchtiger Gedanke, ein Sinnbild, das nicht einmal für eine Gottheit ausreicht. Nicht tot, nicht lebendig.
Davon abgesehen würden sie mich niemals einfach so gehen lassen. Ich werde hier sterben.“
Ich hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen, weil ich immer noch nicht verstand, was sie mit diesem Ort meinte, was das für ein Ort war, in dem so genannte ‚Götter‘ und ‚Sinnbilder‘ lebten. Das hätte ich damals nie zugegeben, aber es kam mir doch ein Stück weit albern vor und ein Teil von mir war der Überzeugung, Anulka sei einfach eine Übergeschnappte und man habe mich unter Drogen gesetzt.
„Dieser Ort hier.. wahrscheinlich bist du inzwischen von selbst darauf gekommen, dass er nicht wirklich in Polen liegt. Genau genommen befindet er sich nirgends. Andererseits ist er aber überall. Er scheint ein Eigenleben zu haben, aber das täuscht. Er hat nur seine eigenen Gesetze. Niemand, der ihn sucht, kann ihn finden, obwohl er überall ist. Er entzieht sich gerne. Nur ab und an stolpern ein paar Unglückliche wie du hierher und wirbeln ein wenig den Staub auf.
Am ehesten kann man ihn vielleicht als einen Fetzen umhervagabundierender Parallelwelt beschreiben, der hier und da lose Bindungen mit der Realität eingeht und bald wieder im leeren Raum verdunstet.
Ich bin hier seit siebentausend Jahren gefangen, aber der Ort ist viel älter; so alt wie die Menschheit selbst. Als ich hier ankam, waren fast alle, die du gesehen hast, auch schon da. Pavel nicht, der kam später. Er ist noch nicht so kaputt und verdreht.
Die meisten glauben, Bjelbog als Ältester sei von Anfang an hier gewesen, aber das ist Unsinn. Seit dem Anfang war nur einer hier, und der hat weder Name noch Gesicht. Ich glaube nicht, dass du ihn getroffen hast. Manchmal kommt er mich besuchen. Von ihm weiß ich alles über diesen Ort und seine Bewohner.
Ohne ihn hätte ich es vermutlich gar nicht so lange hier ausgehalten, in dieser nassen Einsamkeit. Weißt du, was siebentausend Jahre sind? Ich habe irgendwann aufgehört, die Tage zu zählen, aber es kommt auf über zweieinhalb Millionen Nächte, die ich auf dieser durchgelegenen Strohmatratze verbracht habe. Das kannst du dir nicht vorstellen; das übersteigt alles für dich fassbare.
Schon die über achtzigtausend Nächte der Demütigung, Erniedrigung und Folter, in denen ich mich zur Schau stellen durfte, sprengen deinen Horizont bei Weitem. Ich kann es ja selbst kaum glauben.
Über achtzigtausend mal haben sie mich nach oben gezerrt. Wusstest du, dass sie dafür reine Mondmagie mit Blutmagie kreuzen und sie so verdrehen und verpesten? Widerlich.
Und ich bin nicht besser, mache ich das alles doch nur aus Feigheit, aus Angst vor dem Tod mit. Als hätte ich nicht schon lange genug gelebt. Oder besser: überlebt.“
Während sie sprach tropften unablässig Tränen auf den staubigen Boden. Wahrscheinlich hatte sie sich seit Ewigkeiten niemandem mehr anvertrauen können. Ich sah ihr an, dass sie kämpfte, dass da noch so viel mehr war, aber sie sagte nichts mehr. Sie brauchte wohl ein wenig Ruhe, und ich auch.
Ich ließ mich nach hinten fallen und schloss die Augen, um leeren Gedanken nachzuhängen. Ich wollte an etwas anderes als das gerade gehörte, an das erlebte, denken. Ich wollte weg mit meinem Kopf von diesem abstrusen Irrsinn. Aufwachen.
Es war so lange still, dass ich irgendwann überzeugt war, irgendwo auf einem Feldweg zu liegen, auf dem ich während meiner Reise vor Erschöpfung eingeschlafen war. Die pralle Sonne hatte natürlich ihr Übriges getan. Ich hatte offenbar einen Sonnenstich und daher wilde Phantasien und Fieberträume.
Aber dann flüsterte Anulka. „Wenn du gehst, essen sie dich. Wenn du hier bleibst, steht dir der Hungertod bevor.“
Ich sagte nichts. Was sie sagte klang gleichermaßen hohl und wahr.
Was sollte ich auch sagen, wie ich so da lag, als einziges menschliches Wesen in einer transzendenten Stadt voller längst vergessener Götter und mit einer beschissenen Auswahl: Verhungern oder zur Götterspeise werden. Großartig.
In dem Moment wäre mir selbst Anulkas Los lieber gewesen. Leiden oder sterben. Sie hatte wenigstens einen Teil des Lebens.
Die ganze Situation machte mich derart rasend, dass ich unvermittelt mit geballten Fäusten auf den Boden einschlug, bis sie bluteten, und dabei unablässig schrie. Nicht so Mutter, nicht so! Das war nicht alles!
DAS KANN NICHT ALLES SEIN!
[Juli 2015]