Weich fügt sich die Schwärze der Sommernacht um uns zusammen. Zwei lebende Menschen durchwandern – Bier in der einen, Zigarette in der anderen Hand – den mittleren Schlossgarten. Linkerhand wandern die Gleise von Stuttgart nach Cannstatt mit. Es ist kurz vor drei. Vor wenigen Stunden haben T. und ich einen Plan geschmiedet. Seitdem sind etliche Bier und eine Flasche Wein in unsere Blutkreisläufe übergegangen. Trotzdem sind unsere Rucksäcke noch gut gefüllt. Gefüllt mit roten Bierdosen, die beim Laufen leise miteinander klicken. In unserem Zustand hören wir das allerdings nicht. Nichts anderes ist zu erwarten, wenn man mittags damit beginnt, sich auf den Treppen der Oper im gleißenden Sonnenschein zu betrinken. Mit dreiundzwanzig Jahren geht das sogar fast noch als Jugendsünde durch, auch wenn es zur Zeit fast täglich so abläuft. Was soll man sonst auch tun, im Sommer, wenn man Durst hat. Und Durst haben wir.
Während wir laufen, machen wir uns ein wenig über unsere eigenen Texte lustig, und natürlich über uns selbst. Ein wenig Selbstmitleid schwingt natürlich auch mit und die Welt trägt daran wie selbstverständlich die Schuld.
Ein etwa fünfzigjähriger betrunkener Mann kommt uns entgegen. Er läuft seitwärts, spricht mit sich selbst und schreit dabei gelegentlich unartikuliert. Nichts ungewöhnliches soweit. Wir gehen teilnahmslos an ihm vorbei.
In geringer Entfernung vor uns kommt das Gittertor zu den Gleisen in Sicht. Natürlich ist es verschlossen, das wussten wir schon vorher.
Und der Tod ist ein Assi und Oi-Punk!
Einige Minuten betrachten wir die passierenden Züge und haben das Ampelsystem schnell durchschaut. Bei rot kommen keine Bahnen, klar. Da muss man erst mal drauf kommen.
Also kurz abwarten, dann über das Gittertor klettern, die Gleise überqueren und auf der anderen Seite die staubige Schräge entlang zum verlassenen Parkhaus huschen. Wir lieben verlassene Orte.
Zwei Meter über und unter uns befindet sich je eine Ebene des Parkhauses. Von oben strömt uns das kalte Licht weißer Neonröhren entgegen, unten herrscht Schwärze. Wir können den Boden der unteren Ebene nicht sehen, also müssen wir irgendwie auf die obere Ebene, hin zum Licht, klettern. Was für eine treffende Metapher.
An einer Ecke steht einen verlassene Kloschüssel auf einem abgelegten Autoreifen. Sehr wackelig, aber wenn man die Balance hält, kann man sich am Geländer der oberen Etage hochziehen. Was für eine treffende Metapher.
Die Rucksäcke mit dem Bier erschweren das Ganze ein wenig – was für eine treffende halt die Fresse.
Es gibt nichts, das wir nicht schaffen, außer vielleicht uns selbst und schnell sind wir oben.
Alles ist, wie wir es uns vorgestellt haben. Die Mehrheit der Leuchtröhren flackert, eine hängt nur noch an einem Kabel von der Decke und alles ist voller Taubenscheiße. Es riecht nach Alter, Einsamkeit und einer riesigen Ladung antikem Staub und Taubenmist.
Neugierig wie wir sind, probieren wir alle Türen aus, doch nur die wenigsten gehen auf; und hinter denen befinden sich wiederum Türen, die uns allesamt verschlossen sind. Die Türklinken sind ausnahmslos so hoch mit Spinnweben und Taubenscheiße bededckt, dass der Staub gar nicht weiter auffällt. Die Tauben selbst gurren irgendwo über uns vor sich hin.
Die für Parkhäuser typische spirale Verbindung zwischen den Ebenen ist so zappenduster, dass man die eigene Hand vor den Augen verschwindet, gleichviel wie lange man versucht, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wir schaffen es mit torkelnden Schritten in die untere Ebene, die uns allerdings schnell langweilt.
Wieder auf der oberen Ebene, setzen wir uns in dem zu den Gleisen hin geöffneten Teil des Parkhauses auf den Boden, trinken Bier und machen uns einen kleinen Spaß daraus, meine Bitch ein wenig zu ärgern. Sie ist sehr leicht auf 65 Wat zu bringen. Dabei schauen wir den passierenden Zügen zu und wissen, dass es eine der Nächte ist, die wir nie vergessen werden.
Unsere Bierflaschen lassen wir stehen. Wir wüssten gerne, wie lange sie wohl da stehen werden. Vielleicht ja – als ein Monument einer untergegangenen Weltordnung – für die Ewigkeit. Vielleicht noch länger. Vielleicht so lange, bis die Sonne sich zu einem roten Riesen bläht und die Erde wieder in aufnimmt.
Wenn man mit dem Zug vorbeifährt, kann man das ganz gut im Auge behalten. Die Flaschen standen sehr lange da, aber irgendwann waren sie einfach weg.
Wir gehen die finstere Spirale wieder nach oben, über die obere Etage des Parkhauses hinaus. Am Apex ist ein metallenes Tor, das sich nur von innen öffnen lässt. Glück gehabt.
Als wir das Parkhaus verlassen, finden wir uns auf einer überdachten Parkplatzfläche wieder, die an ein Depot der Post grenzt.
An einem Ende der Fläche befindet sich ein praktischerweise geöffnetes Rolltor, an welches sich ein linkerhand zu dein Gleisen hin geöffneter Tunnel anschließt.
Wir machen es uns vorerst auf der Parkfläche gemütlich, rauchen eine Kippe, trinken Bier und schauen uns nach den auf einem Blechschild groß angekündigten Überwachungskameras um, ohne auch nur eine zu entdecken. Also machen wir uns auf den Weg durch den Tunnel und sind sehr gespannt, was uns an dessen Ende erwartet – und ob wir nicht doch noch von einem übereifrigen Security aufgehalten werden. Doch nichts dergleichen geschieht. Eine leise Spannung begleitet uns allerdings die ganze Nacht hindurch. Es ist eine gute Nacht.
Gegen Ende steigt der Halbtunnel an und führt ins Freie.
Vor uns befindet sich ein stellenweise beleuchtetes Gebäude, vor dem ein paar Autos stehen. Wir interessieren uns allerdings viel mehr für das, was sich rechts schräg hinter uns befindet. Auch hier oben liegen Gleise, viele Gleise, die in eine Halle führen.
In diesem Moment sehen wir zum ersten Mal den Bahnfriedhof von außen. Ohne Zögern laufen wir entlang der, auf und über die Gleise. T. ist barfuß und tut sich daher ein wenig schwer mit dem stellenweise bedornten Gestrüpp, das überall aus der Verwahrlosung sprießt.
Ein langer Zug, der rechts neben der Halle steht, erregt unsere Aufmerksamkeit. Wir ziehen an der erstbesten Türe.
Sie ist unverschlossen. Wir betreten den Zug. Er riecht, nun ja, nach altem Zug. Nach sehr sehr altem Zug.
Das Abteil sieht in Ordnung aus, allerdings gehen wir davon aus, dass es nicht mehr in Verwendung ist.
Wir machen es uns in einem Vierer gemütlich, hören 257ers und amüsieren uns dabei köstlich. Das Bier fließt, die Kippen rauchen, wir fühlen uns wie im Himmel.
Und endlich ist es an der Zeit, auch die Zigarre anzustecken. Natürlich mit einem Streichholz, wie das bei Dilettanten unseres Kalibers üblich ist. Wir sind die Götter unter den Kaputten.
Die Zigarre schmeckt so beschissen, wie man es für zwei Euro erwarten darf. Der widerlichte Geschmack wird mit Bier runtergespült, ganz geht er aber nicht weg. Also wird er einfach mit dem deutlich angenehmeren Geschmack von Zigaretten zugedeckt, voilá.
Wir ziehen weiter in den nächsten Waggon, der ein klein wenig lädiert aussieht. Einige der Sitzpolster sind lose oder fehlen, zwei Scheiben werden von Myriaden hässlich fetter Risse durchzogenn. Wir fragen uns, warum dieser verwahrloste Zug hier rumsteht. Keine Ahnung.
Der nächste Waggon ist ein Trauerspiel. Nicht nur Fenster, sondern ganze Wandabschnitte fehlen, als hätte sie jemand herausgeflext. Im Boden sind Löcher an den Stellen, die nicht gerade von sich stapelnden Waggontüren bedeckt sind. Stellenweise müssen wir über die Skelette der Vierer klettern, deren Polsterung ausnahmslos herausgerissen ist, um überhaupt noch weiter zu kommen.
Am Ende des Waggons hält uns eine Türe auf, die sich ums Verrecken nicht öffnen lässt. Also geht es ein paar Meter zurück, um auszusteigen und draußen weiter zu gehen, vorbei an der Problemstelle. Welch hübsche Metapher. Also weiter vorne wieder einsteigen, in das Innere des langen Krüppels.
Der Rest bietet wenig, was wir nicht schon gesehen hätten, aber Spaß macht es trotzdem.
Die Führerhäuschen sind problemlos zugänglich und endlos verstaubt. Fast die gesamte Elektronik ist herausgerissen. Einer der Waggons hat ein Loch in der Decke, aber wir kommen nicht hoch. In einem anderen, schon recht zerstörten Waggon nehmen wir uns herumliegende Eisenstreben und prügeln fröhlich und voller Wut auf die Scheiben um uns ein, allerdings mit mäßigem Erfolg. Immerhin geht die eine oder andere zu Bruch und ein paar Tropfen Blut fließen.
Am Ende des Zuges wird eine Siegerkippe angesteckt, weil wir einfach die Gewinnner sind. Auf dem Rückweg zum anderen Ende und damit dem Eingang der Halle gehen zischend die nächsten Dosen auf, während die warme Nachtluft geatmet wird.
Die Halle – der Bahnfriedhof – ist komplett unbeleuchtet und vereinzelte rostige Züge ragen aus ihrem Maul wie metallene Greisenzähne. Ein wenig laufen wir vor der Halle herum und machen drin ein paar Bahnsteige und kürzere Züge aus.
Als wir an einem der längeren Züge entlang gehen, fällt uns ein Kerl auf, der etwas weiter vorne aus selbigem pisst. Wir bleiben stehen, schweigen, warten ab. Der Kerl zieht sich die Hose hoch und in den Waggon zurück. Die Türe knallt hinter ihm zu. Wir vermuten in ihm einen Penner, der sich hier häuslich eingerichtet hat. Als wir an den Fensternn seines Abteils vorbei gehen, sehen wir aus dem Innern flackerndes Licht, das auf einen Fernseher schließen lässt.
Wir sind unverhältnismäßig erheitert und stecken uns auf unsere Entdeckung eine Kippe an.
Dann geht es, die kleine rostige Leiter hoch, auf den Bahnsteig, über uns das Glasverstrebte Hallendach und wir bleiben erstmal überrascht stehen. Vor uns steht eine Küche. Auf dem Bahnsteig. Zwischen zwei Zügen. Kühlschrank, Ofen, Tisch, Stühle und ein Pressspanschrank. Dahinter noch weitere Schränke, an denen Fahrräder lehnen. Damit hatten wir – surprise motherfucker – nicht gerechnet. In den Zügen leben offenbar Menschen. Wir reißen mit leiser Stimme ein paar Zigeunerwitze und schauen uns die ‚Innen‘einrichtung ein wenig an, ziehen aber bald weiter, weil wir – Ehrenmänner, die wir sind – niemandes Privatsphäre stören wollen. Von der Hallendecke hängt ein langes Stromkabel, das zu der kleinen Wohninsel führt. Wir können uns absolut keinen Reim darauf machen, was für Menschen hier leben. Die Bahn weiß sicher Bescheid, wenn sie Strom zur Verfügung steht.
Später haben wir erfahren, dass es sich scheinbar um etwas weltfremde Bahnfanatiker handelt, deren Lebensinhalt darin besteht, alte Züge zu restaurieren und daran herumzubasteln. Und wer seinem Hobby passioniert nachgeht, der darf auch darin leben.
Auf dem Weg zum Ende der Halle passieren wir einen auf dem Bahnsteig stehenden BMW, der in seinem schwarzen Glanz verdammt neu, verdammt teuer und verdammt unpassend wirkt. Es ist uns ein Rätsel, wie der hierherkommt. Wir finden das alles jedenfalls höchst abenteuerlich.
Am Ende der Halle finden wir eine Art Kontrollraum, zu dem man über eine metallene Stiege gelangt. Die Türe ist verschlossen.
Innen riecht es alt und muffig, es gibt viel Staub, ein Sofa, einige Stühle, ein Schaltpult, einen billigen Tisch und Anzeichen, dass hier vor gar nicht allzu langer Zeit noch Menschen waren. Zum Beispiel unverstaubte Glasflaschen und Stellen, an denen der Staub verwischt ist.
Wir spielen ein wenig am Schaltpult herum, worauf in der Halle verschiedene Lichter erstrahlen. Währenddessen wird natürlich kräftig weitergetrunken und -geraucht. Ein wenig sind wir schon verwundert, dass wir hier so nach Belieben schalten und walten können. Das Radio machen wir nicht an. Radio ist scheiße.
Der Schaltraum war dann auch lustig, aber wir gehen mal weiter, nachdem wir das Licht in der Halle löschen. Man bricht ökologisch nachhaltig ein, willkommen in der Moderne.
Es geht weiter am Kopfende der Halle entlang. Am Ende entdecken wir links ein weiteres Bahnfreakdorf, geradeaus eine Türe nach draußen, hinter der sich ein gut bestücktes Gleisfeld befindet. Scheinbar werden hier wartende Züge gewartet. Wir wollen den Betrieb nicht stören, geschweige denn entdeckt werden, also flugs wieder rein, das Dorf ein wenig betrachten. Aber da gibt es nicht viel Neues. Fahrräder, du Spast.
Hinter dem Bahnfriedhof schließt sich eine riesige beheizte Halle an, vollkommen leer bis auf einen fast alles umfassenden Zaun, Luftzüge und ein verratztes Schimmelsofa, auf das wir uns, weil wir sehr weise sind, nicht setzen. Am Ende der Halle führt wiederum eine Türe, deren Außenseite massiv von Tauben beschissen wurde, ins Freie.
Frische Luft. Erst mal eine rauchen. Und das Abenteuer ist zu Ende. Für‘s Erste.
[Januar|Februar 2016]