Normale Leute sind vielleicht normal, aber ihr Leben ist kein Leben.
Man hat mich ganz allein am Ende der Welt zurückgelassen. Ich kann die Arme noch so ausstrecken – meine Hände bekommen nichts mehr zu fassen.
„Wie ist das, erschöpft zu sein?“, fragte sie.
„Die Gefühlszonen verschwimmen – das Mitleid mit sich selbst und der Zorn gegen andere, das Mitleid mit anderen und der Zorn gegen sich selbst. So in der Art. [..] Ganz zuletzt versteht man gar nichts mehr. Wie bei einem bunten Kreisel, verstehst du? Je schneller er sich dreht, desto schwieriger sind die Farben auseinanderzuhalten. Am Ende herrscht Chaos.“
„Die Seele scheint eine ziemlich unvollkommene Angelegenheit zu sein“, sagte sie mit einem Lächeln. [..]
„Ja, das scheint mir auch so. Sehr unvollkommen“, sagte ich. „Aber sie hinterlässt Spuren. Und diesen Spuren können wir folgen. Wie Fußabdrücken im Schnee.“
„Und wohin führen sie?“
„Zu uns selbst.“, antwortete ich. „So ist das mit der Seele. Ohne sie führt nichts irgendwohin.“
„So viel taugt mein Leben nicht. Und mein Gehirn auch nicht.“
„Eben hast du aber gesagt, du wärst zufrieden mit deinem Leben!“
„Nichts als Worte. Irgendein Banner braucht jede Armee.“
Wie vergewaltigte man eine in einen Käfig gesperrte Frau? Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich gab es auch dafür eine besonders geeignete Methode. Aber mühselig war es bestimmt. Nichts für mich.
Ich hatte Dinge verloren, Menschen und Gefühle. Die Tasche des Mantels, der mein Leben war, hatte ein fatales Loch, das sich mit keiner Nadel und keinem Faden stopfen ließ. Gesetzt den Fall, jemand steckte den Kopf bei mir zum Fenster rein und schrie: „Dein Leben ist Null!“ – was könnte ich ihm schon entgegnen? Nichts, absolut nichts.
Und doch, wollte mir scheinen, würde ich mein Leben, hätte ich es noch einmal zu führen, wieder auf dieselbe Weise leben. Denn dieses verlustreiche Leben war ich. Für mich gab es keinen anderen Weg, als ich selbst zu werden.
Fast alles Handeln des Menschen kommt aufgrund der Prämisse zustande, dass man noch lange zu leben hat; fällt diese Prämisse weg, bleibt so gut wie nichts.
Wir alle werden älter. Daran lässt sich so wenig rütteln wie an Regenwetter.
Ich öffnete die Augen und nahm die Frau sachte in die Arme, um den Büstenhalter hinten aufzuhaken. Er hatte keinen Haken.
„Vorne“, sagte sie.
Fortschritt – es gab ihn also doch.
Ich stecke meine Hände in die Schlaufen an beiden Seiten und spiele ein paar Akkorde.
„Das hört sich sehr schön an“, sagt sie. „Sollen diese Laute den Wind nachahmen?“
„Es ist Wind“, sage ich. „Die Ziehharmonika erzeugt Wind, der die verschiedensten Laute macht und setzt sie zusammen.“
Die Dose war noch halb voll, an der Düse klebte ein bisschen weißer Schaum. Der Tod lässt halb volle Dosen Rasierschaum zurück.
Doch dieses verpfuschte Leben aufgeben, es wegwerfen wollte ich nicht. Ich hatte die Pflicht, es zu Ende zu leben. Andernfalls wäre ich mir selbst gegenüber nicht aufrichtig.
War ich ihr gegenüber aufrichtig gewesen? Nein, wohl kaum. Doch wer verlangte schon Aufrichtigkeit? Niemand! Niemand außer mir! Welchen Sinn aber hatte ein Leben ohne Aufrichtigkeit?